Cover
Titel
Juden und Zigeuner im europäischen Geschichtstheater. «Jewish Spaces» / «Gypsy Spaces» – Kazimierz und Saintes-Maries-de-la-Mer in der neuen Folklore Europas


Autor(en)
Rüthers, Monika
Erschienen
Bielefeld 2012: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Helena Kanyar Becker

Der irritierende Vergleich zwischen den unterschiedlichen Minderheiten fängt als ein subjektiver Erfahrungsbericht an. Die Autorin absolvierte während ihrer Studienzeit in Basel einige Forschungsaufenthalte im polnischen Krakau, wo sie im ehemaligen jüdischen Viertel Kazimierz die Entstehung des populären Sommerfestivals miterleben konnte. Später wurde die südfranzösische Camargue zum Ferienziel für ihre Familie. Monica Rüthers beobachtete die ritualisierten Darbietungen der Wallfahrt in Saintes-Maries-de-la-Mer, wo sich alljährlich im Mai die Fahrenden treffen. Die beiden Festivitäten inspirierten sie zur Erforschung der Theatralisierung der Jewish und Gipsy Spaces und der Faszination, welche die Folklore dieser Minderheiten ausübt.

Als Steven Spielberg Schindler’s Liste 1993 in Kazimierz verfilmte, popularisierte er die Vorstadt von Krakau bei den amerikanischen Juden. Ihre Suche nach der Familienvergangenheit, ihre roots trips, trugen dazu bei, dass sich das verschlafene Kazimierz in einen Rummelplatz mit neuen Cafés, Souvenirshops und Klezmer- Konzerten verwandelte. Die Musiker begannen in den Kaffeehäusern und vor allem beim Kulturfestival zu spielen, das in jedem Sommer etwa 20 000 Besucher anzieht und dessen Schlusskonzert vom polnischen Fernsehen übertragen wird. Paradoxerweise wird die Illusion eines jüdischen Schtetls kaum von Juden, sondern von Polen, Deutschen und Jobsuchenden diverser Nationen inszeniert. Die Autorin charakterisiert die Anziehungskraft der jüdischen Folklore und die Sehnsucht nach der verlorenen Welt chassidischer Ostjuden als einen Teil der Erinnerungskultur an den Zentraleuropa-Mythos, der nach der politischen Wende von 1989 wiederentdeckt wurde. Zur ostjüdischen Nostalgiewelle trugen ebenfalls die Fotobücher von Roman Vishniac bei, die während der 80er und 90er Jahre neu verlegt wurden. Die Meisteraufnahmen aus den orthodoxen Ghettos in Polen, Litauen, in der Ukraine und der Ostslowakei entstanden während der Jahre 1935–1939. Als einen Gegenpol zur fröhlichen Klezmer-Musik, zu amüsanten Tanzaufführungen und Workshops bietet der kommerzielle Thementourismus organisierte Besuche der polnischen Holocaust-Gedenkstätten an.

Monica Rüthers bezeichnet mit dem Begriff Geschichtstheater nicht nur das Festival in Kazimierz, sondern auch die Marienwallfahrt in Saintes-Maries-de-la- Mer, die allerdings ihre historischen Wurzeln in der Mitte des 19. Jahrhunderts hat. Nach einer Legende sollten drei heilige Frauen, Maria Magdalena, Maria Salomé und Maria Jacobé, um das Jahr 40 in der Provence missionieren. Ihre Dienerin, die für ihren Unterhalt sorgte, wird als die Schwarze Sara, Sara-la-kâli, als Patronin der Fahrenden verehrt. Jedes Jahr am 24. Mai wird ihre Statue ans Meeresufer getragen und ihr Kleid mit Wasser benetzt. Am 25. Mai werden die heiligen Maria Salomé und Maria Jacobé gefeiert. Die Prozessionen werden von kostümierten, berittenen Gardians begleitet. Der Schriftsteller Frédéric Mistral (1830–1914) und der Heimatforscher Marquis Folco de Baroncelli-Javon (1869–1943) förderten die Folkloreauftritte und erfanden die provenzalischen Figuren der Gardians und Arlésiennes als eine Touristenattraktion. Baroncelli-Javon gilt als Gründer des Camargue-Mythos, als einer wilden, romantischen Landschaft und Heimat der freilebenden weissen Pferde und schwarzen Stiere. Er initiierte 1935 die Sara- Prozession, die von den einheimischen Gitans, den französischen Manouches und den aus Spanien eingewanderten Kalés, zelebriert wurde. Während der 50er Jahre entdeckten die ersten Künstler die Sara-Prozession, während der 60er und 70er Jahre begannen dorthin die Hippies zu pilgern. Heute feiern etwa 15 000 Sinti, Roma und Jenische ihre schwarze Patronin, und ca. 40 000 Touristen überfluten den kleinen Ort Saintes-Maries-de-la-Mer mit seinen 2500 Einwohnern. Eine Woche vor der Wallfahrt findet dort ein Markt statt, wo die Manouches und Kalés billige Waren verkaufen, wahrsagen, musizieren, Flamenco tanzen und den Touristen die Illusion exotischer Erlebnisse vermitteln. Hier spielte der legendäre Gitarrenvirtuose Manitas de Plata, der «Grossvater» der populären Gipsy Kings. Der Thementourismus vermarktet den Wallfahrtsort als die Hauptstadt der Gitans.

Die Autorin untersucht das Phänomen der Anderen und ihre Parallelgesellschaften im globalisierten Europa. Sie analysiert die imaginären Topographien und gängige Stereotypen der gefährlichen Zigeuner und der schönen Zigeunerinnen und Jüdinnen. Mit kritischem Impetus konfrontiert sie die exotischen Vorstellungen mit den feindlichen Reaktionen auf die gegenwärtige Armutseinwanderung der rumänischen und bulgarischen Roma in Westeuropa.

Um es dem Anfang der 70er Jahre eingeführten politischen Überbegriff Roma recht zu machen, entschied sich Monica Rüthers in ihrer innovativen, essayistischen Darstellung für die salomonische Lösung Roma/Zigeuner, die sie unter anderem für die Manouches (dt. Manusch), die französisch sprechenden Sinti, benützt. Sie verwendet als Synonyme die traditionellen Begriffe Tsiganes und Gitans und traut den identitätsstiftenden Gruppennamen der ost- und südosteuropäischen Roma nicht, die sie als Selbstbezeichnungen qualifiziert.

Zitierweise:
Helena Kanyar Becker: Rezension zu: Monica Rüthers, Juden und Zigeuner im europäischen Geschichtstheater, «Jewish Spaces» / «Gypsy Spaces» – Kazimierz und Saintes-Maries-de-la-Mer in der neuen Folklore Europas, Bielefeld: transcript Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 360-361

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 360-361

Weitere Informationen